Autor: Christian Lenk
Jana Kesenheimer aus Horb-Mühringen ist seit einigen Jahren eine feste Größe in der Weltelite der Ultralangdistanz-Radsportszene. Neben ihren grandiosen Erfolgen bei den bekanntesten Ultra-Rennen der Welt, wie zuletzt beim Transcontinental Race, einmal quer durch Europa, gibt es mittlerweile auch mehrere Fernsehdokumentationen über Jana Kesenheimer und ihre Rennen. Wir konnten die promovierte Psychologin für ein Interview gewinnen.
Frau Kesenheimer, vielen Dank, dass Sie uns für dieses Interview zur Verfügung stehen. Zum Einstieg erst einmal die Frage, wie man überhaupt auf die Idee
kommt, an solchen Events ohne jede fremde Hilfe oder Unterstützung teilzunehmen und dabei teils unmenschlichen Strapazen ausgesetzt zu sein, Tage und Nächte
lang im Sattel sitzend?
Von außen betrachtet mag das „unmenschlich“ aussehen, aber dahinter steckt akribische Vorbereitung. Ich sehe das inzwischen alles als Leistungssport – in den „Mainstream-Sportarten“ würde auch
keiner auf die Idee kommen, zu sagen, das sei verrückt. Rückblickend wirkt es so, als seien die letzten zehn Jahre meines Lebens darauf zugelaufen, einmal diese „Ultra“-Distanzen zu gewinnen,
aber natürlich war das nicht von Anfang an mein Ziel. Ich bin da eher so „hineingerutscht“. Wie meine ganze Familie war ich schon immer ein Ausdauersport-Fan, habe vom Marathon und Triathlon zum
Radmarathon gefunden und dann gemerkt, dass ich relativ gut bin, wenn die Rennen sehr lange dauern. Über einen Freund erfuhr ich vom „Transcontinental Race“ – genau mein Ding. Die Szene war vor
fünf Jahren noch sehr viel unbekannter, kleiner und unprofessioneller. Aber sie wächst, und inzwischen gibt es einige Fahrerinnen und Fahrer mit Sponsorenverträgen und stark wachsendem medialen
Interesse, wie ich auch selbst bemerke.
Bei Ihren Rennen übernachten Sie oft unter freiem Himmel. Haben Sie da keine Bedenken um Ihre Sicherheit, und gab es schon brenzlige
Momente?
In den Rennen schlafe ich je nach Gesamtdistanz zwischen 90 Minuten und vier Stunden. Wenn ich mich um zwei Uhr nachts schlafen lege, zum Beispiel in einer Wanderhütte, dann bekommt das in der
Pampa kein Mensch mit. Auch wenn ich aufstehe und weiterfahre, ist es meist noch dunkel. Ich suche mir draußen Plätze zum Schlafen aus, wo ich niemanden störe, wo mich niemand sieht und wo ich
keine Spuren oder Müll hinterlasse. Niemand bekommt mit, dass ich überhaupt da war. Dann fühle ich mich wohl. Brenzlige Momente gab es eher in Motels, wo ich nachts alleine einchecke, oder wo
Betrunkene oder Partygäste nachts vor Hotels palavern. Was die Sicherheit angeht, ist mir die Pampa also eigentlich lieber.
Photocredits: Tom Gibbs, Liz Seabrooks, Tomás Montes, Beatrice Berla und Michael Drummond für LostDot / Transcontinental
Führen Sie eine Statistik über Ihre Fahrten? Wie viele Stunden pro Woche, Monat, Jahr verbringen Sie im Sattel? Wie viele Höhenmeter und Kilometer legen Sie
pro Jahr in etwa zurück?
Klar, ich führe auf „Strava“ quasi öffentlich Tagebuch über fast jede Fahrt. Im Jahr komme ich auf ungefähr 16.000 bis 20.000 Radkilometer. Weil ich in Innsbruck lebe, sind die Höhenmeter aber
viel entscheidender: 300.000 bis 350.000 Höhenmeter pro Jahr macht das. Mit Wintersport wie Langlaufen und Skitouren, dazu Krafttraining, ab und zu Schwimmen und seltener auch mal zu Fuß, komme
ich auf 900 bis 1000 Stunden Sport pro Jahr, schätze ich. Eigentlich geht es mir aber nicht so sehr um diese Zahlen – die passieren eben nebenbei.
Wie planen Sie Ihre Saison? Wie legen Sie fest, an welchen Ultrarennen Sie teilnehmen werden?
Mein Job als Dozentin und Wissenschaftlerin an der Uni Innsbruck hat erste Priorität. Ich kann also nicht während des Semesters meine Studierenden im Stich lassen. Zum Glück gibt es lange
Semesterferien, zu denen ich zeitlich flexibler bin und meinen Urlaub nehmen kann. Mein ganzer Jahresurlaub geht dann für die Rennen drauf. Meistens plane ich ein „kürzeres“ Vorbereitungsrennen
mit kurzer Anreise im Frühjahr. Dieses Jahr war das zum Beispiel das „Unknown Race“ über 1200 Kilometer im April. Dann gibt es ein großes Hauptrennen im Sommer, 2024 das Transcontinental Race
über 4000 Kilometer im Juli, und dann habe ich gerne ein Rennen zum Saisonabschluss im Herbst, wie kürzlich das „Two Volcano Sprint“ im Oktober über 1100 Kilometer vom Vesuv zum Ätna. Ich habe
gemerkt, dass ich mehr als drei Ultra-Rennen auch mental nicht schaffe. Wenn ich an den Start gehe, will ich alles nutzen können, was in mir steckt.
Gibt es schon konkrete Rennplanungen für 2025?
Nein, aber ich spiele mit dem Gedanken, wieder mehr off-road mit dem Mountainbike unterwegs zu sein, nachdem meine 2024er-Saison sehr Straßen-lastig war. Auch das Transcontinental Race würde mich
noch einmal reizen, weil das einfach eine grandiose Fahrt durch Europa war.
Wie sieht Ihre Vorbereitung für solche Etappenrennen wie zuletzt fürs Transcontinental Race aus?
Ich bereite mich auf jede Ultra-Saison gleich vor. Im Winter versuche ich, etwas mehr Intensität zu fahren und eher strukturiert zu trainieren. Die Grundlagenausdauer habe ich nach vielen Jahren
nun recht stabil, ich versuche also, eher an meiner Schwellenleistung zu arbeiten. Nach einem langen Rennen brauche ich meist drei Wochen Erholung, bevor ich wieder Intervalle fahren kann, zum
Beispiel. Ab dem Frühjahr geben die Rennen den Takt an. Außerdem versuche ich im Laufe der Saison, mein Setup zu optimieren: Welche Taschen, welche Ernährung, welche Reifen, welches Licht
funktionieren gut oder können weiter verbessert werden?
Gab es während Ihrer Rennen schon Momente, in denen Sie sich sagten: „Bis hierhin und nicht weiter“? Und wenn ja, wie schaffen Sie es dann, die Motivation
wiederzufinden und weiterzufahren?
Klar! In der Szene nennen wir das Aufhören „scratchen“. Es gibt ungeschriebene Regeln: Zum Beispiel sollte man niemals in der Nacht und niemals hungrig scratchen. Nach ein paar Stunden Schlaf und
mit etwas im Magen sieht die Welt oft ganz anders aus. Und es ist gar nicht so einfach aufzuhören: Man muss schließlich auch zum Aufhören erst mal Radfahren, zumindest bis zum nächsten Bahnhof.
Als ich zum Beispiel im April dieses Jahres mitten in Österreich nach 300 von insgesamt 1200 Kilometern im Schneesturm stand, wollte ich unbedingt aufhören. Als ich dann am Bahnhof angekommen
war, hat die Sonne durch die Wolken geblitzt, und das habe ich als Zeichen gesehen – was sich natürlich nicht bewahrheitet hat, denn kurze Zeit später stapfte ich durch den Schnee zum Checkpoint.
Je mehr man geschafft hat, desto schwieriger ist es, all das wieder aufzugeben. Es würde sich dann anfühlen, als sei alles andere umsonst gewesen. In solchen schwierigen Momenten hilft mir ein
Telefonat mit Familie und Freunden oder auch einfach die Aussicht auf ein Croissant oder einen Kaffee.
Haben Sie ein Lieblingsrennen, beziehungsweise gibt es in der Ultra-Szene ein Rennen, das man als Athletin unbedingt in seiner Palmares haben
sollte?
Mein persönliches Lieblingsrennen ist bisher das Transpyrenees (LostDot), das im Herbst stattfindet und zweimal durch die Pyrenäen führt: Atlantik, Mittelmeer und zurück. Ich mag die Einsamkeit
dieser imposanten Berge, die Natur, die wilden Pferde und die eindrücklichen Sonnenauf- und -untergänge. Das prestigeträchtigste Rennen unserer Szene ist aber vermutlich das Transcontinental
Race, das seit zehn Jahren auf unterschiedlichsten Strecken über 4000 Kilometer durch Europa verläuft.
... und gibt es ein Rennen, von dem Sie sagen würden: „Einmal und nie wieder“?
Es gibt Events, die eher „Abenteuer“ als faire Rennen sind. Ich persönlich mag die strengen Rennen lieber, kann aber auch verstehen, dass sich manche durch den „Adventure“-Charakter mehr
angesprochen fühlen.
Sie haben ja schon eine ganze Reihe an Siegen bei den bedeutendsten Rennen eingefahren. Was ist für Sie gefühlt Ihr bisher größter
Erfolg?
Die traditionellen Radsportler würden wahrscheinlich sagen, mein „Stockerl“-Platz beim Ötztaler Radmarathon 2021. Aber als 13. bei einer Top-Besetzung der Jubiläums-Ausgabe des Transcontinental
Race als erste Frau ins Ziel zu kommen, ist etwas, auf das ich viel, viel mehr stolz bin. Beim Transpyrenees 2022 und beim ThreePeaks 2021 wurde ich Gesamt-Sechste beziehungsweise Fünfte. Es ist
schon besonders, auch so viele Männer hinter sich zu lassen. Ich mag, dass der Geschlechtervorteil zugunsten der Frauen verschwimmt, wenn wir sehr lange Radfahren. Beim Ötztaler Radmarathon ist
das nicht möglich.
... und welches Rennen wollen Sie unbedingt noch gewinnen?
Mein Ziel ist es eigentlich nie, unbedingt zu gewinnen. Das ist natürlich supercool, aber ich freue mich immer am meisten, ein neues Rennen in einer mir neuen Umgebung zu fahren. Ich will also
vor allem noch einige Rennen fahren, die ich bisher nicht kenne: zum Beispiel das Silk Road Mountain Race in Kirgisistan oder ein Ultra-Rennen in Indonesien. Es ist ein großes Privileg, diese
Möglichkeiten und die Gesundheit zu haben, unsere Welt auf diese Art und Weise zu erleben, finde ich.
Haben Sie sportliche Vorbilder oder gibt es andere Persönlichkeiten, die Sie inspirieren?
Mich inspirieren natürlich starke Frauen auf dem Rad. Ich bin ein echtes Fangirl des Profi-Radsports. Lotte Kopecky, Demi Vollering, Liane Lippert, Puck Pieterse und Co. leisten einen Superjob,
sodass der Frauenradsport spannend ist und auch medial immer mehr Aufmerksamkeit erfährt. Es wäre so schön, wenn der Frauenradsport jetzt noch die gleichen Förderungen, Gelder und mediale Präsenz
bekäme. Im Ultra-Bereich hat Fiona Kolbinger, inzwischen eine sehr gute Freundin von mir, vor einigen Jahren das Transcontinental Race als Gesamt-Erste vor allen Männern gefinished. Das ist
natürlich superinspirierend!
Was glauben Sie, wie lange Sie auf Ihrem derzeitigen Niveau noch fahren können?
Ich bin jetzt 30, der Peak im Ausdauersport liegt bei Frauen im Durchschnitt bei 36 Jahren; darüber mache ich mir keine Sorgen. Ich will einfach nur lange gesund Radfahren können.
Sie kommen aus Mühringen, leben aber seit Ihrem Studium in Innsbruck. Wo sind Sie mehr zu Hause?
Meine Heimat ist eher der Schwarzwald, oder das „Tor zum Schwarzwald“, wie sich Horb nennt. Das wird sich nie ändern. Mein Zuhause ist aber Innsbruck, wo ich seit über sieben Jahren lebe.
Gibt es denn Planungen, sich wieder in Richtung alter Heimat zu orientieren?
Nicht konkret, nein. Beruflich stürze ich mich aber auf Chancen in Süddeutschland oder Innsbruck. Wir werden sehen. Noch gefällt mir Innsbruck unheimlich gut, ich habe hier einen tollen Kreis aus
engen Freundinnen und Freunden gefunden.
Was für unsere Leser noch interessant wäre: Verraten Sie uns Ihre Lieblingsroute in Ihrer alten Heimat Horb oder der ganzen Region, die man aus Ihrer Sicht
unbedingt mal radeln sollte?
Ich fahre daheim meistens, was mein Papa oder mein Bruder gut finden, die kennen sich da inzwischen besser aus. Ich mag aber den Schwarzwald sehr gerne. Man findet mich, wenn ich zu Hause bin,
viel im Neckartal und Glatttal. Am Bodensee sind wir auch oft, da mag ich den „Höchsten“-Klassiker sehr gerne.
Sie sprachen vorhin an, dass Sie sich wieder mehr Off-road vorstellen können. Aktuell fahren Sie fast all Ihre Rennen mit einem Gravelbike. Was schätzen Sie
an diesem recht neuen Typ Fahrrad am meisten oder, anders gefragt, welche Vorteile sehen Sie im Vergleich zu anderen Fahrradtypen wie Mountainbike oder Rennrad?
Mit dem Gravelbike kann man über Wald- und Schotterwege fahren, ohne nervigen Straßenverkehr, und trotzdem dank seiner Leichtigkeit gut Strecke zurücklegen. Das mag ich.
Das Interview führte Christian Lenk.
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